100 Jahre      Mikrobiologische Vereinigung München e. V.     1907 - 2007
 



Brennweite, freier Arbeitsabstand und Fluchtdistanz

In Fotozeitschriften und -büchern kann man neuerdings oft den Unsinn lesen, ein Makroobjektiv mit längerer Brennweite ("Telewirkung") habe oder ermögliche eine größere Fluchtdistanz als eines kürzerer Brennweite. Gemeint ist aber der freie Arbeitsabstand, der Abstand zwischen Frontfassung des Objektivs und der Oberfläche des aufzunehmenden Objektes.

Die Fluchtdistanz ist etwas ganz anderes, nämlich der Abstand, bis auf den ein Tier die Annäherung eines möglichen Feindes duldet, ohne zu fliehen. Überschreitet man sie, so schlängelt sich die Schlange in die Büsche, springt die Gazelle, fliegt der Vogel und trollt sich der Löwe knurrend fort. Das ist die äußere Fluchtdistanz. Nähert man sich rasch oder vom Tier unbemerkt so weit, daß auch die zweite, die innere Fluchtdistanz überschritten ist, so flieht das Tier nicht mehr, sondern bleibt zunächst wie gebannt am Platz und geht, sofern das in seiner Art liegt, sofort zum Angriff, d. h. eigentlich Verteidigung über. Das macht sich der Dompteur zunutze: So lange sich seine Peitsche in der Zone zwischen äußerer und innerer Fluchtdistanz befindet, weicht der Löwe ihr aus und folgt scheinbar dem Dirigieren des Dompteurs. Soll die Sache aber publikumswirksam gefährlich aussehen, so hält der Dompteur den Stock über die innere Fluchtdistanz zum Löwen hin, der sofort mit seiner Pranke danach schlägt, aber nicht mehr weiter zurückweicht.

Die Fluchtdistanz hängt natürlich nicht von Baulänge oder Brennweite des Objektivs ab, wie man meist in verquast formulierten Sätzen in Fotokatalogen oder Artikeln von "Fachautoren" lesen kann, sondern ist eine artspezifische Eigenschaft eines Tieres, häufig durch starke Verfolgung oder Domestizierung und Gewöhnung individuell verschieden. Zum Beispiel haben Tiere mit einer Tarnfärbung oder langen Giftzähnen eine sehr geringe Fluchtdistanz, Gazellen, die stark verfolgt werden, eine sehr große. Ebenso ist die Fluchtdistanz in Nestnähe geringer.

Aber Insekten, also Fliegen, Hummeln, Schmetterlinge oder Libellen, um die es ja bei der Anwendung von Makroobjektiven hauptsächlich geht, haben überhaupt keine Fluchtdistanz! Sie reagieren allein auf Bewegung, am ausgeprägtesten auf Querbewegung, quer zur Aufnahmerichtung. Also das Spannen des Schnellschalthebels mit dem Daumen, das Drehen am Fokus- oder Blendenring des Objektivs mit der Hand, Niederdrücken des Auslöseknopfes mit dem Finger oder seitliches Bewegen der ganzen Kamera jagen Insekten meist sofort in die Flucht. Nähert man sich ihnen jedoch mit der Kamera frontal und sehr langsam, bleiben sie in der Regel, das näherkommende Objekt mißtrauisch beäugend, ruhig sitzen, man kann sehr nahe herankommen, so daß ein Makroobjektiv von 60 oder gar nur 50 mm Brennweite ausreicht. Diese kurzbrennweitigen Objektive haben den großen Vorteil, daß die Perspektive bei der Wiedergabe besser ist, das Bild hat mehr räumliche Tiefe, das Tier sieht nicht so aus, als sei es plattgequetscht auf einen flachen Hintergrund geklebt. Das nämlich ist die typische Wiedergabe mit einem sogenannten Makroobjektiv von 135 oder 200 mm Brennweite ("Telemakro"). Aus diesem Grunde ist mir ein 60er auch für Insektenaufnahmen am liebsten, und ein 90er oder 100er die eigentlich längste noch vernünftige Brennweite mit einer passablen Wiedergabe augengerechter Perspektive und Raumtiefe. Auch ein 135er ist in Ausnahmefällen noch verwendbar, wenn es denn auf nahe Abstände berechnet ist. Aber ein 180er oder 200er als Makroobjektiv zu bezeichnen oder zuverwenden, ist wegen seiner ungünstig geringen Raumtiefe in der Abbildung nur für Frontalaufnahmen von ziemlich flachen Objekten oder ähnliche Spezialfälle anzuraten.

Die unkundige Verwechslung von Fluchtdistanz und freiem Arbeitsabstand nährt falsche Vorstellungen von den Reaktionen der Insekten und führt Makrofreunde zu unzweckmäßigem Verhalten und zur Anschaffung von ungeeigneten Objektiven. So kommt der schöne, bunte Brummer nicht aufs Bild!

(Über diese Zusammenhänge berichtete auch unser früh verstorbenes Vereinsmitglied Dr. Frieder Sauer, Karlsfeld, in seinem lesenswerten Buch über Naturfotografie.)

Klaus Henkel



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